Am Anfang stand für uns die Frage, ob die Ukraine, deren wenig sagende Übersetzung „Grenzland“ lautet, ein lohnendes Reiseziel ist. Was gibt es zu entdecken? Was bestimmte unsere Interessen?
Zunächst einmal wollten wir einen weißen Fleck auf unserer touristischen Landkarte von Europa mit Eindrücken füllen, zumal die Ukraine ja hinsichtlich Fläche, Bevölkerung und auch Kultur ein politisches Schwergewicht unseres Kontinents darstellt. Die weitaus häufiger von Deutschen bereisten Ziele Ägypten, Mexiko und Australien kennen wir zwar auch nicht, sind aber der Ansicht, daß zunächst einmal der Bereich "vor der Haustür" erkundet werden sollte.
"Wir" - das sind in diesem Fall Vater ( fast 70 Jahre, aber zum Glück sehr rüstig ) und Sohn. Familiäre Wurzeln finden sich durchaus "im Osten", aber an anderer Stelle - in Schlesien, welches heute polnisch ist. Der Großvater ist 1941 vor Leningrad gefallen, durchquerte aber auf dem Marsch dorthin heute eher Weißrussland zuzurechnende Gebiete. Aus diesem Grunde hatten wir auch schon St Petersburg bereist, kannten überdies die baltischen Staaten.
Mein Vater war Soldat bei der Bundeswehr, überwiegend in Schleswig-Holstein, und damit war bis in mein Erwachsenenalter klar, daß familiäre Entdeckungsreisen niemals hinter den "Eisernen Vorhang" gehen würden. Daß diese "verbotene Zone" so plötzlich und selbstverständlich eines Tages für Urlaubsreisen offenstehen würde, ist für mich noch immer ein Wunder und hat meine Wahrnehmung politischer Vorgänge wesentlich verändert. Es schwingt also schon ein bißchen rational wohl nicht ganz erklärbares Interesse "für den Osten Europas" mit. Ausdruck davon sind auch bescheidene, aber auf unserer Ukrainereise sehr hilfreiche Kenntnisse der russischen Sprache.
Unsere Vorbereitungen der Reise bekamen dadurch noch etwas Würze, daß wenige Wochen zuvor, im April und Mai 2007, in der Ukraine Machtfragen noch einmal sehr offen gestellt wurden und dem Lande neuerliche Instabilität drohte - jedenfalls rechneten wir schon mit innerukrainischen Auseinandersetzungen.
Brauchbare Literatur zur Planung der Reise war schwieriger zu erhalten, als ich erwartet hatte, auch wenn man berücksichtigt, daß es sich nicht um ein touristisches Massenziel wie die Provence oder die masurischen Seen handelt. Hier möchte ich besonders ein Buch mit dem etwas provozierenden Titel "Kulturschock Ukraine" (Reise know how-Verlag) hervorheben, welches mit viel Einfühlungsvermögen und auf der Höhe der Zeit den bunten Hintergrund der ukrainischen Vergangenheit und die Vielgestaltigkeit der ukrainischen Gegenwart beleuchtet. Eine Schwäche dieses Buches sind die Darstellungen der großen Städte. Hier ist man wohl am besten beraten, vor Ort einen bildreichen Führer in deutscher Sprache zu besorgen. Dringend empfehle ich überdies, sich mit dem kyrillischen Alphabet vertraut zu machen – Vieles, gerade im öffentlichen Bereich, läßt sich dann ohne weiteres übertragen und verstehen.
In unserem Fall konzentrierte sich die Reise auf die Städte Kiew und Odessa, die größte und die kleinste der immerhin fünf ukrainischen Millionenstädte (neben Charkow, Dnjepropetrowsk und Donezk). Entsprechend ihrem zu erwartenden touristischen Gewicht hatten wir dabei der Hauptstadt fünf und der „Schwarzmeerperle“ drei Tage zugemessen, eine Lösung, die auf die uns zur Verfügung stehende Zeit von insgesamt acht Tagen zurückzuführen war. Hätten wir länger bleiben können, wäre sicher der „Klassiker“ einer etwa 2 wöchigen Dnjepr-Schiffsfahrt von Kiew nach Odessa in Betracht gekommen. Aber kaum wohl hätte uns auf einem solchen Flußkreuzschiff so viel quirliges und mitreißendes Großstadtleben erreicht wie bei unserer Variante, die 600 km mit der Bahn zurückzulegen.
Dankbar sind wir dem im Internet aufgestöberten Reisebüroteam von Dreizackreisen um Herrn Alexander Jolivet, mit dem ich im Vorfeld zahlreiche Telefonate geführt habe und der geduldig spezielle Wünsche unserer Reiseplanung aufnahm. Wir legten dabei besonderen Wert auf die für uns angemessene Mischung aus vorgeplanter und individueller Gestaltung : Wir verstehen darunter die geführte Pflichttour durch die wesentlichen Kirchen, aber bitte auch Besuch der wichtigen Theater und unbedingt das Baden im Dnjepr sowie im Schwarzen Meer ….
1.Tag
Unser Ausgangsflughafen war Hamburg, und die bequemen Maschinen der ungarischen Fluglinie Malev trugen uns per Gabelflug mit Zwischenlandung in Budapest nach Kiew bzw. am Reiseende von Odessa zurück in Deutschlands Norden. Nach Abholung am Flughafen von Kiew durch die ortsansässige Reiseleitung bezogen wir zunächst Quartier im Hotel „Ukraina“. Bis vor wenigen Jahren hatte es noch Hotel „Moskau“ geheißen, und in der Tat entfalteten sich in ihm Reste des rustikalen Sowjet-Charmes. Jedenfalls lag unser Hotel Ukraina/Moskau ideal im Zentrum der Stadt, direkt am Majdan, dem Platz der Orangenen Revolution 2004. Zahlreiche Unterführungen im Bereich des Majdan erlauben einem die Überquerung teilweise extrem befahrener Straßen, so auch des nah gelegenen Chreschtschatyk, der wichtigsten Einkaufstraße Kiews.
An diesem ersten Abend folgten wir einer kulinarischen Empfehlung, der wohl eine Einschätzung von uns zu Grunde lag, wir brauchten um uns Folklore und überbordende Dekoration. So landeten wir auf einem zum Restaurant umgebauten Dnjepr-Schiff, aßen zwar gut, aber auch zu stolzen Preisen und beschlossen fortan, uns eher auf unseren eigenen gastronomischen Instinkt zu verlassen, was wir während der Reise nicht bereut haben.
2. Tag
Im Mittelpunkt dieses Tages stand die von Dreizackreisen angebotene deutschsprachige Stadtführung. Wir wurden von Larissa empfangen, die uns gleich eine Tour über 5 Stunden ankündigte. In der beleibten Larissa verbanden sich berufliche Professionalität, Selbstironie, starke Wurzeln in der sowjetischen Vergangenheit und Mutterwitz zu einer interessanten Persönlichkeit, die es verstand, das touristische Pflichtprogramm mit Anekdoten eingängig zu gestalten:
Der Schwerpunkt der Tour lag auf den wichtigen Kirchenbauten Kiews, auf die ich mich in meiner Darstellung beschränken möchte. Dies waren in der Reihenfolge ihrer Besichtigung: Das St- Michaelskloster, aus dem 12. Jahrhundert, unter Stalin 1937 abgerissen und jüngst wiedererbaut – ein gewaltiges Zeugnis des Aufbauwillens, welches in unserem Lande nicht ausreichend beachte wurde. Dann die am Kiewer „Montmartre“, dem Andreashang, gelegene 1750 von Rastrelli erbaute Andreaskirche. Schließlich die „Mutter der Russischen Kirchen“, die Sophienkathedrale aus dem Jahre 1020. Fast neu dagegen die Wladimirkathedrale, erbaut 1861-1862. Und zum Abschluß das Höhlenkloster Petscherskaja Lawra aus dem Jahre 1051, in dem u.a. die Nestorchronik entstanden war. Nach so viel vergoldeten Kuppeln, Ikonen und einer für einen Protestanten aus dem Norden beeindruckenden gelebten Gläubigkeit fiel der Übergang in den hektischen Kiewer Geschäftsalltag schwer – wir erleichterten uns dies mit einem Becher Kwas – einem typischen ukrainischen Getränk, das mich an verdünntes Malzbier erinnert und an der Straße direkt aus großen gekühlten Kanistern gezapft wird.
Am 3. Tag wollten wir einen " Ausflug auf`s Land " machen. Die Idee, sich hier in einen Eisenbahnzug am Zentralbahnhof zu setzen, ca. 100 Kilometer hinauszufahren und dann am späten Nachmittag dieselbe Strecke wieder zurück, scheiterte nicht zuletzt an einer leider sehr unfreundlichen Fahrkartenverkäuferin im Kiewer Bahnhof. Hier hätten wir uns gewünscht, daß zumindest ein Informationsstand in englischer Sprache zur Verfügung gestanden hätte - es handelt sich bei Kiew ja nicht um eine Stadt in der Größe von Köln: angegeben wird als Bevölkerung häufig 2.5 Millionen , während mehrere Führer uns unabhängig mitteilten, daß Kiew bereit über 4 Millionen Einwohner habe, so daß wir schon eher mit Berlin vergleichen müssten. Fehlendes sprachliches Entgegenkommen an offiziellen Stellen findet man aber leider auch in den großen Museen dieser Stadt, ebenso wie in Odessa. – Hier wird offensichtlich gedankenlos touristisches Potenzial verschenkt; denn die Ukrainer, welche sich um die englische oder deutsche Sprache bemühen, sprechen diese mit angenehmem Akzent und recht verständlich. Andererseits wollen wir nicht die Großzügigkeit dieses Staates vergessen, der uns – als einseitige Vorleistung – unproblematisch ohne Visum einreisen läßt (wer sich einmal um die Einreise nach Weißrußland bemüht hat, weiß dieses Entgegenkommen wohl zu schätzen).
Wir müssen also ziemlich hilflos am Kiewer Bahnhof dagestanden haben, bis uns ein Taxifahrer ansprach und uns anbot, für 200 Dollar den ganzen Tag umherzufahren. Diesen Preis wollte ich so nicht akzeptieren, und das war auch gut so. Benötigen Sie ein Taxi, lassen sie dies am besten durch das Hotel rufen. Die Rezeption vereinbart auf Wunsch dann auch gleich eine akzeptable Obergrenze für die Beförderung.
Auf Anregung eines Reiseprospektes hatten wir uns die ca. 100 Kilometer nordöstlich von Kiew liegende Stadt Nizhyn (ca 100.000 Einwohner) für die Exkursion aufs Land ausgesucht. Die Fahrt dorthin führte auf einer bemerkenswert guten autobahnähnlichen Straße durch ein uniformes Panorama weiter Feldflächen. Im Ort selbst entfaltete sich - gemessen an meinen Erwartungen - ein buntes und keinesfalls sehr rückständiges Leben: viele in Renovierung befindliche Kirchen, Marktatmosphäre, Geschäfte, die von DVDs, Handys und Sonnenbrillen bis hin zu raffinierter Schuhware alles anbieten – und Menschen, die irgendwie zufrieden wirkten. Auch hier auf dem Lande hatte die Schmelze aus Nordmannen, Slawen, Tataren und Schwarzmeeranrainern viele Menschen mit kaum übersehbar gefälligem Äußeren hervorgebracht - häufig unterstrichen von sehr modischer Kleidung.
Unser Fazit, als wir am späten Nachmittag wieder in Kiew ankamen: Es muss nicht Nizhyn sein, aber der Ausflug " auf das Land " gehörte auf jeden Fall dazu.
Abends sahen wir dann in der Kiewer Oper das Ballett Carmen sowie Sheherezade von Rimsky-Korsakow und waren nach diesem Programm ziemlich müde. Zu denken hat mir ein aus Lemberg stammender Reiseführer gegeben, der bemerkte, hier im Opernhaus würde unter den Zuschauern mehr Deutsch als Ukrainisch gesprochen – zwei Reihen hinter uns saß übrigens Larissa mit einer österreichischen Reisegruppe.
Wir wollten den nächsten, unseren 4. Tag, etwas ruhiger angehen lassen und machten morgens eine Flußfahrt auf dem Dnjepr. Die meisten dauern so 1 - 2 Stunden, aber es gibt auch deutlich längere. Auch eine Dnjeprfahrt ist nach meiner Ansicht ein Muß. Da die Temperaturen im Schatten häufig über 30 Grad lagen, entschlossen wir uns zu einem auf einer Dnjeprinsel liegenden ganz passablen Sandstrand zu laufen und schwimmen zu gehen. Mein Vater beendete das Strandleben nach 2 Stunden, aber ich genoß immer wieder die kühlende Wirkung des breiten und stolzen Flusses. Ich bildetet mir ein, daß er deutlich sauberer sei als die Neva, in der ich einmal vor 3 Jahren in St. Petersburg geschwommen war und dort immer das Gefühl hatte, über Wasserpflanzen hinzugleiten. Und wenn wir hier schon diese beiden Städte vergleichen: Das Panorama auf das am rechten Flussufer ansteigende „alte“ Kiew ist viel naturbetonter mit großen Waldflächen und wirkt dadurch freundlich, fast beschaulich, aber auch weniger weltstädtisch als der Blick von der Peter und Paul Festung auf das andere Neva-Ufer.
Aus der Beobachtung der unbekümmerten, fröhlichen , einfach Sonne, Wärme und die Strandatmosphäre genießenden Menschen wich dann auch eine anfänglich wohl doch vorhandene Verkrampftheit, Rucksack oder Ähnliches könnten einem entwendet werden. Ich hatte die Sachen zwar im Blick, entfernte mich dann aber - auch als ich allein war -immer wieder deutlich davon und möchte für unsere gesamte Reise feststellen, daß für uns als deutsche Touristen kein relevantes Sicherheitsrisiko besteht - sicher nicht mehr als in Manchester oder Marseille.
Im übrigen waren auch die von uns erwarteten innenpolitischen Auseinandersetzungen schlichtweg nicht erkennbar: keine Plakate, keine Versammlungen, keine demonstrativen Anhäufungen von „blau“ oder „orange“. Man sagte uns auch, die Ukrainer seien politikmüde geworden, und bei dem Treiben junger Leute in den Straßen der großen Städte und in den auch spätabends häufig vollbesetzten Cafes und Restaurants ist das auch verständlich.
Nach soviel Berührung mit dem Dnjepr sollte dann abends wieder ein " kulturelles Bad " stattfinden - ein Brahmskonzert in der Philharmonie, deren Besuch nicht nur wegen des Konzerts sondern auch wegen der Besucher, des anderen Ablaufs und auch des wunderschönen Raumes lohnt. Die Karten hatten wir schon vorher über Dreizackreisen zurücklegen lassen. Es zeigte sich aber erneut, daß auch an der Abendkasse noch genügend freie Plätze zu haben waren – bei sehr moderaten Preisen.
Am 5.Tag , unserem letzten in Kiew, besuchten wir das Museum über den „Großen Vaterländischen Krieg“ zu Füßen der Mutter Heimat, einer martialischen Statue, die mit hochgehaltenem Schwert auf den Dnjepr blickt. Da der Weg dorhin fast keinerlei hinweisende Zeichen enthielt, kam uns schon mal der Gedanke, ob ein Besuch dieses Museums überhaupt erwünscht sei.
Das Innere stellte sich als sprudelnde militärhistorische Quelle heraus, die vor allem geeignet war, den ukrainischen und russischen Nationalstolz zu nähren – mit eindeutigeren Aussagen des Siegers als man sie bei vergleichbaren Ehrenmalen - etwa im nordfranzösischen Caen - findet. Während sich bei uns im echten Kern einer didaktisch und museumspädagogisch ausgefeilten Ausstellung manchmal nur wenige, durchaus bedeutsame Exponate finden, wird man von der Macht, Vielzahl und Art des präsentierten Bild- und Kriegsmaterials geradezu erschlagen - leider aber auch hier nur ukrainische bzw. russische Bildunter-schriften, dafür aber auskunftswilliges Personal, dessen Freundlichkeit diesen Mangel ausglich.
Als zusätzliche Qualität dieses Museums – und nicht nur hier - fand man bestechend saubere Sanitäranlagen, die den Vergleich mit entsprechenden Orten bei uns nicht zu scheuen brauchen.
Fast zur Stunde unserer Abfahrt aus Kiew begann ein Elton John Konzert auf dem Majdan-Platz der Unabhängigkeit direkt vor unserem Hotel „Ukraina“. Wir mußten aber leider auf die erhoffte Konzertteilnahme verzichten, da uns im doppelten Sinne die Bahnfahrt mit dem Nachtzug bevorstand, der um 22 Uhr Kiew verließ und um 6 Uhr morgens Odessa erreichte und verheißungsvoll „Tschornomorjez“, also „Schwarzmeerzug“ hieß. Sorgen, insbesondere meiner daheimgebliebenen Familienmitglieder, ob diese Nachtfahrt denn auch ausreichend sicher sei, zerstreuten sich sofort bei der ersten Inaugenscheinnahme der wirklich geräumigen Kabine, die fast wie ein Safe mit einer Metalltür und großem Eisenhebel zu sichern war und dabei die in meiner Erinnerung vorhandenen deutschen Schlafwagen an Bequemlichkeit bei weitem übertraf: Der „Tschornomorjez“ bot uns immerhin Teppichboden und einen eigenen Fernseher.
Am Morgen des 6. Tages holte uns eine wiederum deutschsprachige Führerin aus unserem neuen Hotel in Odessa ab ( Hotel Mozart direkt gegenüber der Oper ). Diese hieß Marina und war wohl so um die vierzig. Anders als Larissa aus Kiew, die etwas wehmütig auf den ihr in Sowjetzeiten verliehenen Titel „Heldin der Arbeit“ (oder so ähnlich) verweisen konnte, gestaltete sie die Stadtrundfahrt weniger detailverliebt, aber auch effizienter.
Verdiente Aufmerksamkeit erhielt der Wachwechsel, bei dem eine kleine Formation aus in Uniform gekleideten halbwüchsigen Jungen und Mädchen mit würdevoll-militärischem Schritt einander am Denkmal des Unbekannten Matrosen ablösten. Wiederum fand die Fahrt in einem höherklassigen Wagen deutschen Fabrikats statt, den man uns offenbar schuldig zu sein meinte. Auffällig im übrigen war auch in Odessa die Vielzahl wirklich teurer Luxusautos, die neben zahlreiche Kleinwagen überwiegend russischen Typs unterwegs waren - letztere nicht selten von heftigen Unfällen erkennbar gezeichnet.
Nachdem wir durch die ca 3stündige Führung einen guten Überblick über die Stadt erhalten hatten, deren antiker Name mit ihrem wahren Alter von nur zwei Jahrhunderten in scharfem Kontrast steht, war uns klar, daß wir zunächst die Stelle aufsuchen würden, von der man uns besonders abgeraten hatte: der " Privos ". Hier handelt es sich um einen riesigen Markt, z.T. unter Hallendächern, bei dem eben nicht auf das Gramm abgewogen und in mehrschichtige Plastikfolien eingewickelt wird. Man bekommt eine Salzgurke direkt aus dem Faß und die herrlichen fettgebackenen Piroschog. Tritt man einige Schritte zurück, ordnet sich das Kunterbunt: hier die Kräuterstände, dort Eier- und Obststände, an denen hiesige Melonen ihren Verzehr einforderten.
Und auch hier, selbst auf dem Bauernmarkt - eine Wartezeit wird von einer Marktfrau durchaus einmal mit einem Handygespräch überbrückt: Die ganze Ukraine telefoniert und zwar öffentlich: Alt und Jung, im Gehen, selbst auf den U-Bahntreppen von Kiew, während der Autofahrt und in den Cafes. Nur wir sind irgendwie mit unseren Handys nicht klargekommen und waren nicht in der Lage, auf diesem Wege zu kommunizieren - haben es aber im Nachhinein auch nie gebraucht.
Wer sich vorstellen kann, über den Privos zu gehen, wird keinerlei Schwierigkeiten mit diesem Land haben. Wer aber bauliche und auch sonstige Schwächen registriert und addiert, um immer wieder Sanierungsbedürftigkeit bestätigt zu sehen, findet in der Ukraine zwar dazu reichlich Gelegenheit, wird aber der „Mentalität“ der Ukrainer nicht gerecht werden – bitte, ich würde natürlich nicht für mich in Anspruch nehmen, die genau zu kennen, aber für diese Aussage reicht meine Kenntnis. Und wenn die ukrainische Mentalität der deutschen entspräche, befände ich mich jetzt nicht auf diesem herrlichen ein bißchen abenteuerlichen Urlaub.
Manchmal ist einfach ein bißchen Nachsicht nötig – und verdient das nicht ein in jeder Hinsicht junger Staat, der sich selbst erst finden muß? Bitte, sogar die Währung Griwna (richtigere Transkription wohl „Hryvnja“) ist jung: gerade eben mehr als zehn Jahre alt. Ehrlich, ich hatte bis vor einem halben Jahr noch nichts davon gehört und auch bisher in meinem näheren Bekanntenkreis, von denen man sicher einige dem „Bildungsbürgertum“ zurechnen kann, noch keinen gefunden, der die ukrainische Währung aktiv benennen konnte – immerhin zahlen 50 Millionen Europäer in Griwna. Hier muß der Ukrainer wohl etwas Nachsicht mit dem deutschen Bildungsbürger üben …
Noch immer am Tag der Ankunft mit dem Nachtzug Kiew / Odessa drohten wir bei staubtrockenen Straßen und Temperaturen bis nahe an die 40 Grad allmählich zu ermatten (wer hier Schwierigkeiten hat, lieber einen Monat vorher reisen). Da drangen wie erlösend von Ferne aus einer Parkanlage beschwingte Klänge von Blasmusik an unsere Ohren. Wir lauschten diesem Freiluftkonzert mit viel Freude und erfuhren, daß das Orchester im Sommer am Sonnabend- und Sonntagnachmittag auftritt.
Diesen langen und abwechslungsvollen Tag ließen wir mit einer Fahrt auf dem Schwarzen Meer ausklingen - mit der einbrechenden Dämmerung hatte uns der Zauber von Odessa gefangen.
Am folgenden 7. Tag, dem letzten vor unserer Abfahrt, besuchten wir das Museum für Volkskunde und Geschichte der Stadt Odessa und wurden hier von mitteilungsfreudigen Damen geführt, denen wir dankbar einen brandneu erschienenen, in ukrainischer Sprache gestalteten Museumsführer abkauften.
Anschließend fuhren wir mit einem der vielen für die Ukraine so typischen gelben Trolleys - etwa halb so groß wie ein Omnibus bei uns - nach „Arkadien“, um hier im Schwarzen Meer zu baden. Wer andere Promenaden kennt, wird in seinem Urteil angesichts des klangvollen Namens vielleicht etwas nüchtern sein - aber das Wasser war warm und herrlich und lud zum Verweilen ein. Am Abend besuchten wir noch die Philharmonie, größer und prachtvoller noch als die in Kiew, in der eine Art arabisch-ukrainisches Festival stattfand , welches wir uns vielleicht so nicht ausgesucht hätten - aber auch in Odessa wollten wir unbedingt ein Musiktheater besuchen, und die Oper, vor über 100 Jahren in nur 3 Jahren errichtet, ist nach ebenso langer Schließung wegen Reparatur leider immer noch nicht für Veranstaltungen geöffnet – Sie erinnern sich an den Satz über die Mentalitätsunterschiede?
Der letzte Abend endete in einem gut besuchten Straßenrestaurant bei reichhaltigem, wohlschmeckendem und relativ günstigem Essen.
Am nächsten Morgen, unserem letzten, dem 8. Tag, vor unserem Abflug setzte ich noch einmal meinen Wunsch um, in einem Buchgeschäft zu stöbern und kaufte hier auch eine Menge Klaviernoten. Die letzte Stunde gehörte dann der Potemkin-Treppe, die von oben deutlich weniger imposant als erwartet wirkt. - Hier wollte ich noch ein Stück Odessa als Bleistiftzeichnung festhalten – natürlich den filmbekannten Blick von unten.
Mit vollem Herzen verließen wir dann diese wunderschöne Stadt und unser Urlaubsland, das „Grenzland“, von dem ich vorher nur plakativ-nebulöse Vorstellungen hatte und das mich bestimmt wiedersehen wird!