Architektur im Spiegel der Zeit
Minsker Architektur am Hauptbahnhof |
Auf einer besonderen Stadtführung lernten wir Minsk, die weissrussische Hauptstadt als „Sonnenstadt der Träume“ kennen. Einst nannte so der bekannte belarussische
Schriftsteller Artur Klinau seine Heimatstadt. Das gleichnamige Buch ist eine Hommage an Minsk, die in ihrer architektonischen Homogenität in dieser Art weltweit
einzigartig ist.
Wir besuchten Minsk im Rahmen unserer Weissrussland Reise auf der Suche nach neuen interessanten Reisezielen in Osteuropa.
Im Zweiten Weltkrieg wurde Minsk fast völlig zerstört und bot danach sehr viel Raum für die Realisierung eines komplett neuen Städtekonzepts. Nirgends sonst konnte die zu Stein gewordene Utopie des
sowjetischen Sozialismus so Raum greifen wie hier, nirgends hatte sie nach dem
Krieg so viel Platz sich in all ihren Facetten, mit Ihrer strengen Geometrie,
mit weitläufigen Parks und Boulevards, so auszubreiten, wie in der
weißrussischen Hauptstadt.
Die Strukturierung des Raums, die Symmetrie der
Magistralstraßen, die Monumentalität der öffentlichen Plätze und der
Verwaltungs- und Regierungsbauten, die in Stein gemeißelte Verortung der
Heldentaten der Sowjetmenschen, und die scheinbar endlosen und uniformen
Wohngebiete der Peripherie, was man fragmentarisch in Berlin, Riga oder Moskau
sehen kann, wird hier zu einem großen Ganzen. Mehr noch: der Flirt mit dem
westlichen Kapitalismus war bis heute nicht erfolgreich genug, dass Minsk das
uniforme Aussehen westlicher Großstadtzentren mit Ihren gleichförmigen Konsumtempeln
hätte annehmen können.
Sie wirkt in ihrem strengen Klassizismus wie aus der
Zeit gefallen. Einen großen Beitrag dazu leistete unter anderem die Resolution „über
die Verewigung der von den Sowjetmenschen begangenen Heldentaten“ vom 17.
Januar 1966 und Ernennung zur zehnten Heldenstadt (gorod geroi) am 26. Juni 1974.
Penibel gepflegte Schriftbanner, riesige Mosaika, und allerlei Denkmäler und
Statuen zollen diesem bis heute Tribut.
Wir machten uns mit einem passionierten Architekten
und Stadtphilosophen auf den Weg und starteten die architektonische Tour im ehemaligen alten Minsker Stadtzentrum (Troitskoye Predmestye), welches zum Teil noch aus dem 11. Jahrhundert datiert. Leider wurde es 1982-85 komplett neu errichtet, heute stehen dort Gebäude, die alt aussehen sollen, aber im Grunde neu sind - Kolosse ohne Seele, einem potemkinschen Dorf gleich, das eine wenig bekannte architektonische
Vergangenheit heraufbeschwören will.
Kulturpalast der Gewerkschaften in Minsk |
Danach unternahmen wir einen
Spaziergang durch die neoklassistische Innenstadt, und besichtigten zwei
Gebäude, die den Krieg überstanden - zum einem das Haus der Offziere von
1939, in dem sich heute ein Theater befindet und das Parlament von 1934 auf dem Unabhängigkeitsplatz. Besagter Platz ist von seinen Ausmaßen
größer als der rote Platz in Moskau, an ihm liegen die Stadtverwaltung, die
pädagogische Universität, sowie die Kirche des heiligen Simon und der heiligen
Helena, eine 1910 im neoromanischen Stil erbaute Backsteinkirche.
Von dort öffnet
sich in nordöstlicher Richtung der Boulevard der Unabhängigkeit, die zentrale
Magistrale der Stadt, die von 1945-1959 erbaut wurde. An ihr befinden sich die
wichtigsten Plätze und Gebäude der Stalinepoche, darunter das
imposante Gebäude der Hauptpost und ein Stück weiter das KGB- Gebäude, eines der
ersten Gebäude das nach dem Krieg errichtet wurde.
Gleich gegenüber des KGB
besuchten wir Inna Mihailovna in ihrer Wohnung zu Kaffee und Kuchen. Sie wohnt in einer sogenannten Stalinka, einer Wohnung aus
den 1950er Jahren in einem für den Boulevard typischen Monumentalbau, dessen
Wohnungen früher ausschließlich Parteikadern vorbehalten waren.
Danach schauten wir uns weitere
interessante Gebäude im Minsker Zentrum an - das zentrale staatliche Kaufhaus, der
Palast der Republik, der Zirkus, und das Sportstadium Dynamo. Neben den
stalinschen Zuckerbäckerbauten sahen wir im Stadtzentrum auch einige avantgardistische Bauwerke, wie zum Beispiel das Außenministerium.
Anschließend schlenderten wir durch den Gorkipark bis zum monumentalen
Siegesplatz und besichtigten das nahegelegene Minsker Bolschoi-Theater,
in seiner Form größer als der bekannte Moskauer Namensvetter.
Anfang der sechziger Jahre war
die vom Monumentalismus und Neoklassizismus gekennzeichnete Periode des
Wiederaufbaus abgeschlossen, schon Mitte der 1950er Jahre waren diese Ideen
weitgehend verworfen worden. Im Zuge der Industrialisierung wurde die Stadt der
kommunistischen Zukunft ausgerufen, es erfolgte eine Abkehr von Überfrachtung
und Überfluss hin zu einer Einfachkeit und Strenge der Formen. Statt Ästhektik
stand die Funktionalität der Stadt im Vordergrund.
Um dem massiven
Bevölkerungswachstum der Stadt in den späten sechziger Jahren gerecht zu
werden, setzten sich die sogenannten Mikrorayons durch, Plattenbausiedlungen
die meist an eine der zahlreichen Großfabriken angegliedert waren. Wir schauten uns im ältesten Mikrorayon der Stadt um, der gleich nach dem Krieg um das riesige Traktorenwerk „Belarus“, in dem bis heute ca. 22.000 Menschen arbeiten.
Beeindruckend für uns war außerdem die Nationalbibliothek. Am dreiundzwanzig Stockwerke hohen Gebäude in der Form
eines Diamanten scheiden sich die Geister, gleiches gilt für die neue Residenz
des Präsidenten, die wir ebenfalls passierten. Seit den 2000er Jahren hat erneut
ein Monumentalismus in die Architektur Einzug gehalten, dem böse Zungen den
Titel Agroglamour gegeben haben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen