Dienstag, 26. November 2013

Ausflug in die Ukraine südlich von Lemberg oder das Matrjoschka- Prinzip



Die Kunstgalerie in Drohobytsch
Die Kunstgalerie von Drohobytsch
Während meines Aufenthaltes in Lemberg, hatte ich die Gelegenheit, einen Ausflug in die Westukraine südlich von Lemberg zu unternehmen. Ein unvergesslicher Ausflug, auf dem ich sehr viele Leute kennenlernte.

Alles fing mit einer zufälligen Begegnung auf der Straße an: Ich fragte nach dem Weg, eine junge Frau antwortete mir, stellte fest, dass ich Ausländer bin. Ich stelle fest, dass sie ein perfektes Deutsch spricht. Und so schwatzen wir ein bisschen, sie lädt mich ein, sich am Abend mit ihren Freunden in einer Bar in der Nähe meines Hotels zu treffen und ich willige ein.

Bei den vielen Gesprächen stellt sich heraus, dass ein Freund aus Drohobytsch stammt, er macht groß Werbung für seine Heimatstadt. Seine Eltern leben immer noch dort, er war sie lange nicht mehr besuchen. Auf einmal schlägt er mir vor, ihn am nächsten Tag dorthin zu begleiten. Ich habe schon 2 Tage in Lemberg verbracht, meine Freunde sind schon nach Hause abgeflogen, einen guten Einblick über die Hauptstadt Galiziens habe ich schon bekommen, wieso also nicht? Wir verabreden uns um 5 Uhr am Hauptbahnhof. Wir müssen früh losfahren, wenn wir pünktlich am Abend nach Lemberg zurückfahren wollen. Naja, es fährt ja auch nur ein Zug am Tag dahin…

Noch im Halbschlaf, ohne gefrühstückt zu haben (denn das Restaurant war angeblich noch zu) gehe ich raus auf meine Lieblingsstraße in Lemberg, die von der Oper zum Hauptbahnhof führt, mit auf den ersten Blick unüberwindbaren Hindernissen. Es regnet. Wie aus Eimern. Die 15 Minuten zu Fuß sind heute ziemlich lang…

Am Bahnhof zeigt mir mein neuer Freund Vasil stolz die zwei Zugfahrkarten, die er an der Kasse grade ergattert hat. Wir schaffen es sogar noch, er einen Tee, ich einen Kaffee zu trinken. Eine Oma verkauft uns ein Brötchen mit Quarkfüllung (Watruschka). Auf dem menschenleeren Gleis finden wir einen trockenen Platz zum Warten. 

Endlich kommt der Zug. Er kommt mit viel Lärm an, der Fahrer scheint, die Bremsen der Lok zu testen, aber sie bringen den Zug zum Stehen, ohne Stoß. Der Zug sieht sehr hoch aus, ich frage mich, wie ich die Treppen hinauf schaffen werde. 

Im Wagen ist alles still. Mit „alles“ meine ich die 60 Reisenden, die im offenen Schlafwaggon auf Doppelstockbetten liegen. Zwei Personen längs des Flurs und 4 quer zum Flur, es bleibt noch gerade genug Platz, damit sich eine Person durchschleichen kann. Alle schlafen. Nur unsere Zugführerin ist da, um uns zu empfangen. Beim Schleichen zu unseren Plätzen merke ich jedoch, dass hie und da ein Auge aufgeht. Im letzten Moment umkurve ich einen Fuß, der unter der Decke hervorragt. Vasil setzt sich hin, ich mache es ihm nach. Wir brauchen kein Bettzeug wie die anderen, die auf der Fahrt des Zuges aus der Ostukraine hier im Waggon eine ganze Nacht oder gar mehrere verbringen. Wir gucken uns erst still an, dann schließen wir auch die Augen.

Eine halbe Stunde vor Ankunft werden wir von unserer Zugführerin geweckt. Wir steigen aus, ohne eine Stufe zu verpassen. In großen kyrillischen Blockbuchstaben entziffere ich auf dem beeindruckenden Bahnhofgebäude für eine solch kleine Stadt: DROHOBYTSCH. Wir sind zwar früh da, aber gerade recht angekommen: die Stadt pulsiert schon. Und es regnet hier nicht.

Wir sehen, wie zahlreiche Marschrutkas (Minibusse, die als öffentlicher Verkehrsmittel dienen) anhalten und dann wieder schnell wegfahren. Kein Schild in Sicht, keine Bushaltestelle. Mein Reiseführer geht zielstrebig zu einer der Schlangen, die sich gebildet haben. Wir warten einige Minuten. Ein Marschrutka fährt vorbei, dann das nächste. Leute steigen ein und aus. Als die Nummer 137 ankommt, sind wir mit Einsteigen dran. Vasil zahlt die Fahrt direkt beim Fahrer. So funktioniert es, ohne Fahrkarte. Eigentlich ganz umweltfreundlich, wenn man von den ziemlich dunklen Abgaswolken absieht…

Wie verabredet steigen wir in der Innenstadt aus, um ein kleinen Rundgang zu machen, bevor wir das Haus seiner Eltern anpeilen. Vasils Mutter hat darauf bestanden, uns ihren Borschtsch, eine Suppe mit roter Bete, kosten zu lassen. Wir laufen am Theater, einem pistaziengrünen prächtigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, an der Synagoge, an einem verlassenen Kino, an einer Fußgängerzone und an Wohnvierteln vorbei.

Die Architektur von Drohobytsch ist sehr abwechslungsreich: vom sozialistischen Stil über deutschen Barock bis hin zu einfachen Holzhäusern mit Schnitzereien. Die letzteren fangen natürlich meinen Blick. Diese Häuser aus Holz haben meist einen Garten mit bunten Blumen und Beeten, die der Straße ein verlassenes aber charmantes Antlitz verleihen. Hier entdecken wir auch das Haus, in dem einst der Schriftsteller Bruno Schulz lebte. Drohobytsch hinterlässt in mir einen gemischten Eindruck, Stadt und Dorf in einem.

Wir erreichen dann auch das Haus von Vasils Eltern, ein 5stöckiges Haus aus der Chruschtschow- Ära, wie mir mein Begleiter mitteilt, ziemlich zerfallen von außen. Seine Mutter empfängt uns mit einem breiten Lächeln. Sein Vater sitzt schon am Tisch und guckt Fernsehen, bevor das Essen losgeht.

Der Tisch ist schon reich gedeckt, wir müssen uns nur noch hinsetzen und essen. Die versprochene Rote-Bete-Suppe ist tatsächlich lecker, das Hauptgericht auch (ich kann mich an den Namen nicht mehr erinnern, aber an den Geschmack schon!). Trotz der wenigen Worte, die ich auf Russisch kenne, schaffen wir es, uns zu verständigen und lachen viel zusammen. Vielleicht lag das auch an der Flasche, die wir bei Essen gemeinsam allmählich, aber sicher leerten. 

Meine Gastgeber fingen dann an, sich für mich ein Nachmittagsprogramm auszudenken. Der Vater von Vasil sollte etwas bei einem Freund in Truskawez, einer Kurstadt mit populärem Thermalheilquellen in der Nähe von Drohobytsch, abgeben und wir würden ihn begleiten. Bevor wir uns auf den Weg machten, tranken wir noch Tee mit „Vogelmilch“, eine Art überzuckerte Baiser mit Schokoladenüberguss. Perfekt wenn man vergessen hat, seinen Tee zu süßen!

Der Wagen, in den wir einstiegen, einen alten Lada, wäre schon längst auf dem Schrottplatz in Deutschland, aber in der Ukraine fahren die Autos länger als bei uns. Die ukrainischen Automechaniker haben rustikale Lösungen für alle Probleme. 

Die Fahrt dauert nur reine Viertelstunde. Die Straßen werden schlechter. 

Die Innenstadt von Truskawez, am Rande der Karpaten, besteht aus zwei Hauptstraßen, eine ist für Fußgänger freigelassen und mit einer breiten Baumallee und kleinen Parks mit bunten Gartenhäuschen bestanden, die mit den sowjetischen, eher grauen Gebäuden kontrastieren.

Flaniermeile in Truskawez
Flaniermeile in Truskawez

Viele Leute flanieren. Eine Statue vor dem Eingang der Thermen lädt uns ein, hereinzuspazieren. Wir entdecken viele Wasserhähne, aus denen heilsames Mineralwasser herausfließt. Über jedem Wasserhahn hängt eine Erklärung über die enthaltenen Mineralien und den gesundheitlichen Nutzen. Da das Wasser Schwefel beinhaltet, werden ungewöhnliche Behälter zum Trinken benutzt, ohne dass die Zähne das Wasser berühren.

Auf dem Rückweg treffen wir wie durch Zufall den Freund des Vaters, bei dem er ein Päckchen abgeben sollte. Er bittet uns, ihn nach Drohobytsch mitzunehmen. Nun saßen wir im kleinen Auto mit einem Reisenden mehr. Unterwegs steigt noch ein Tramper ein, am Rande eines Dorfes. Er trägt ein Huhn auf dem Arm, das ihm seine Mutter geschenkt hat. Seine weißen struppigen Haare erinnern ein bisschen an die Mähne eines Löwen. 

Während der Fahrt geraten wir natürlich ins Gespräch und der Löwe wundert sich, dass man mir die beiden Holzkirchen in Drohobytsch nicht gezeigt hat. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert und werden seit mehreren Jahren aufwendig restauriert. Es stellt sich heraus, dass der Löwe selbst die Kirchen renoviert. Wir setzen erst den Freund des Vaters von Vasil ab. Dann halten wir an einer der Kirchen an. Der Löwe mit seinem Huhn unterm Arm macht uns die Tür der Holzkirche mit einem riesigem Schlüssel auf, so wie man ihn sich in Märchen vorstellt. Er redet viel, wenig über die Kirche und seine Kunst, als würde es ihn nicht so sehr interessieren. Aber ich merke, dass er schon beeindruckt ist, dass ein Deutscher bis hierhin angereist ist, um sich „seine“ Kirche anzuschauen.

Wir danken ihm für diese unerwartete Besichtigung, es ist schon Zeit für den Zug zurück nach Lemberg. Ein schneller Blick auf die Uhr reicht aus, um das Angebot des Vaters von Vasils anzunehmen, uns zum Bahnhof zu bringen. Am Bahnhof hat Vasil noch Zeit, uns Verpflegung für den Zug zu besorgen. Die Treppen des Wagons scheinen mir heute Abend doch nicht mehr so hoch.

Beim Essen schweift mein Blick über die Landschaft, die am Zugfenster vorbeifliegt, und meine Gedanken über all die unerwarteten Ereignisse, die in so kurzer Zeit geschehen sind - all die Leute, die ich zufällig getroffen haben: Die deutsch sprechende Frau, ihr Freund Vasil, sein Vater, dessen Freund, der Tramper/Kirchenrestaurator und natürlich sein rotes Huhn. Ich hatte gerade das magische Prinzip der ukrainischen Matrjoschka- Puppen am eigenen Leib erlebt: Ein Treffen birgt jeweils das nächste in sich.

Der Eingang zur Kurhalle in Truskawez
Der Eingang zur Kurhalle in Truskawez

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