Mittwoch, 24. April 2019

Architektur Reiseführer in Kiew: die Epoche der grossen Baustile





Die Geschichte von den Städten spiegelt sich in den Baustilen ihrer Gebäude wider. Ein  Baustil ist die Herangehensweise an die Organisation des Raumes in Gebäuden - ob groß und öffentlich oder kleines Einzelgebäude. Er weist  die Fülle von Ansichten über das Leben, Schönheitsvorstellungen und verschiedenen Bedürfnissen einer Periode: sozialen, geistigen, alltäglichen. Je unterschiedlicher die Bedürfnisse sind, desto mehr Arten von Gebäuden, die sie erfüllen müssen.

Aber nicht immer ist die Reihenfolge der Stile leicht nachzuvollziehen: dort haben wir das mittelalterliche Viertel und hier Konstruktivismus. In Kiew, wie auch in den meisten europäischen Hauptstädten haben sich verschiedene Baustile vermischt und schufen ein wundervolles und einzigartiges Gewebe der Stadt. Sehen wir uns also an, was es gibt, und sortieren die Elemente, um uns nicht in der tausendjährigen Geschichte Kiews zu verlieren.

Statt Romanik

Während des Mittelalters erinnerte man sich in Westeuropa an die strukturelle Erfindungen der alten Römer - Kuppeln und Bögen, und schuf auf deren Erfahrungen basierend einen neues Stil, der in Erinnerung an die Ursprünge Romanik genannt wurde. Auch im Osten Europas, in Byzanz,  wurde das römische Erbe nie vergessen, jedoch entwickelte es sich nicht so stürmisch wie im Westen, eher ruhig und im Austausch mit mit Osteuropa und den Balkan. Die byzantinische kulturelle Expansion erlebte genau zu der Zeit einen Aufschwung, als im Westen die Romanik aufblühte.

In Kiew ist diese Periode in mehreren Innenräumen zu entdecken. Der erste und der wichtigste ist die Sophienkathedrale, gebaut 1037. Das Gebäude selbst möchten wir an dieser Stelle aussparen, da die byzantinischen Elemente heute in einem barocken Gewand verbergen.  Im Inneren jedoch sind sie ganz gut zu sehen: mächtige Stützen teilen den Raum in fünf Schiffe und zusammen mit den Bögen tragen sie ein System von Kuppeln - von klein über das Seitenschiff bis zum großen zentralen, bilden eine pyramidenförmige Zusammensetzung. Die zentrale Kuppel ruht auf dem dreieckigen Sockel  - so ist es den alten Architekten gelungen, vom quadratischen Unterbau  in den Kreis zu wechseln, der die Gestalt der Kuppel bestimmt. Das Interieur der Kirche, heute ein Symbol der ukrainischen Staatlichkeit, ist auch ein herausragendes Beispiel für die Synthese von Kunst, Architektur und Malerei. Buchstäblich Quadratkilometer von Mosaiken und Fresken schaffen ein Gefühl dessen, woran Byzanz geglaubt hat: die Kathedrale ist der Himmel auf Erden.





Fotorechte für alle Fotos: Marc Trebukhov

Noch so ein Wunder ist die gut erhaltene Dreifaltigkeitskirche im Kiewer Höhlenkloster (Petcherska Lawra), zu Beginn des 12. Jh. als Torkirche ins Kloster errichtet. Zwar ist sie heute nicht nur von außen verändert, hat der lustige ukrainische Barock den byzantinischen Charakter des Gebäudes  mit viel Barockmalerei auch im Inneren der Dreifaltigkeitskirche in nichtbyzantinischen verwandelt. Aber in die kleine Kirche, in der vier massive Säulen eine filigrane Kuppel halten, lohnt sich unbedingt reinzuschauen.







Die zauberhafte Kyrill- Kirche stammt auch noch aus vormongolischen Zeiten - nach 1150, als sie im Auftrag von Fürstin Marie Mstyslawiwna gebaut wurde. Die Kirche mit der großen zentralen Kuppel wurde zur Grabstätte von Chernigiwer Dynastie, zu der Maria selbst gehörte.

Dazu ist die Kyrillkirche eine echte Enzyklopädie der Monumentalmalerei: neben Fresken aus dem 12. Jahrhundert, die sorgsam freigelegt wurden, finden sich Gemälde des 17. und 19. Jahrhunderts. Zuletzt nicht als „grobe Erneuerung“, wie es sonst oft in Kirchen passierte, sondern mit den vollendeten Werken so namhafter Künstler wie Michail Wrubel, Ivan Jishakewich und Mykola Pymonenko.






In der Ukraine stehen heute nur noch wenige Gebäude aus der vormongolischen Ära, von denen auch meist nur Fragmente des urspünglichen Baus übrigblieben. Dazu gehören die Berestow   Erlöserkirche neben dem Höhlenkloster in Kiew und der St.Michaelskirche des Wydubizkij Klosters.
Sowohl dort als auch bei den anderen Kirchen ist der östliche Teil der Gebäude aus vormongolischen Zeiten erhalten geblieben, der Rest muss dem Barock zugerechnet werden.



Auch das Goldene Tor im Herzen Kiews könnte man dem byzantinischen Baustil zuordnen, allein, es ist eine Replik des Orginals von 1024, das zur 1500- Jahrfeier  Kiews 1982 auf den Grundmauern des alten Goldenen Tors errichtet wurde.

Gotik & Renaissance

Als in Italien die wunderschönen Renaissancepaläste errichtet wurden und vom Reichtum der Medici und anderer kündeten, hatte Kiew seine besten Zeiten längst hinter sich und dämmerte in der russischen Provinz, in der viel mit Holz gebaut wurde. Deshalb sind in Kiew aus der Gotik und der Renaissance keine Gebäude erhalten.

Barock
Kiew kann man sicher eine Barockstadt nennen, denn damit ist die ukrainische Hauptstadt mehr als gesegnet. Fast alle Klöster in Kiew wurden in der ukrainischen Variante des Barock errichtet oder umgebaut, die meisten Kirchen auch.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts, nach Jahrzehnten der Zerstörung und Verheerungen, befand sich kiew unter dem Einfluß des Hetmanats, des Kosakenstaats.  Die Hetmänner dieses Kosakenstaates gaben den Baumeistern die Aufträge für die Neuerrichtung und Renovierung der Kirchen und Paläste Kiews. Aus dieser Zeit wird der ukrainische Barock oft als „Kosakenbarock“ oder „Mazepabarock“ genannt. Unter Hetman Stepan Mazepa erreichte der Barock seine Blüte und wurde in seiner Entwicklung von ihm entscheidend angeschoben.






Das Kiewer Höhlenkloster und das Wydubytchi- Kloster, die Sophienkathedrale  und die Christi Himmelfahrts Kirche im Stadtteil Podil zeigen mal besser, mal schlechter erhaltene Barockmerkmale, sowohl einzeln, als auch in Ensemblen. Das Ensemble barocker Elemente ist sehr wichtig, weil dieser Stil optische Illusionen und visuelle “Spezialeffekte“ liebt. Alle diese Wellenkirchenformen, üppige Giebel, reichprofilierte Pilaster und Gesimse, prächtige Stuckaturen im Innenraum und an den Außenfassaden, das besondere Spiel des Lichts an den gebogenen weißen Wänden, das alles sollte den ehrfürchtigen Betrachter aus denvertrauten Koordinaten, irdischen Maßstäben und der Begrifflichkeit von „weit“ und „nah“ entfernen, ihn überraschen und verwirren, einen überirdischen Eindruck hinterlassen. Und wo es gelungen ist, solche Gebäudeensembles zu errichten und zu kombinieren, da kann der ukrainische Barock in Kiew die ihm eigene Theatralik voll entfalten.

Aber nicht nur die Kosaken investierten in die Kiewer Bauten. An den Wänden der Sankt Georgs Kathedrale ( 1696-1701) des Wydubizkijklosters erblicken wir den Wappen ihres Stifters, Führers der Staroduber Polk und Beraters Mazepas, Mychajlo Myklaschewskyj. Die Sankt Elias Kirche im Kiewer Stadtteil Podil wurde 1692 aus Geldern der Kiewer Familie Hudym errichtet und 1755 auf Kosten des Kiewer Hundertschaftsführers Mychailo Hudym umgebaut. Monumentalen Barockbauten wie diese beiden bleiben bis heute wichtige städtebauliche Dominanten, sie bilden das “klassische Bild“ der ukrainischen Hauptstadt, das heute unter dem Druck des modernistischen Baubooms an Kontur verliert.







Nicht nur die monumantalen Schätze des Barocks können in Kiew bewundert werden, auch in viele kleinere amtsgebäude und Wphnhäuser fand der barock Eingang. Natürlich zerstörten Feuersbrunste und Kriege viel von der einstigen Pracht, ein reich verziertes Bürgerhaus ist jedoch vollständig erhalten geblieben. Der zweistöckige Minipalast vom Ende des 18. Jahrhunderts ist aufwendig mit Stuck dekoriert und verfügt über eine gemütliche Loggia über dem Eingang. Der Palast wird manchmal fälschlicherweise als das „Haus von Peter I.“genannt, aber die Geschichte um den  Aufenthalt des Zaren auf Podol gehört ins Reich der zahllosen Legenden, die im 19. Jahrhundert im russischen Imperium anlässlich der Siegesfeier nach der Schlacht von Poltawa in Umlauf gebracht wurde.


Dazu gibt in Kiew auch zahlreiche weitere Barockpaläste, davon nicht verwunderlich viele im Besitz der Kirche. Der Klow Palast, von Stepan Kownir und Gottfried Johann Schädel zwischen 1752 und 1756 in ziemlich moderaten Formen gebaut, wurde ursprünglich im Auftrag des Kiewer Höhlenklosters für besondere Pilger, die russischen Zarenfamilie, bestimmt und berherbergte später die Kirchendruckerei. Heute ist der Klow Palast Sitz des obersten Gerichtshof der Ukraine.

Der Palast des  Metropoliten auf der Gelände des Sankt Sophien Klosters ist Barock in seiner ganzen Pracht. Der Bau wurde von 1722 bis 1757 in mehreren Stufen er- und umgebaut,  er schmeichelt dem Auge des Betrachters mit einem beeindruckenden dreistöckigen Giebel, Türmchen und Pilastern.
Ganz in der Nähe des Metropolitenpalastes, auf der kaum besuchten Rückseite des Klosters,  befindet sich ein ikonische Beispiel ukrainischer Barockarchitektur. Es handelt sich um das Raphael Zaborowsky Tor aus dem Jahre 1746. Es wurde nach seinem Auftraggeber benanntpräsentiert uns ukrainischen Barock in konzentrierter Form: Pilaster, Halbsäulen, wellige Giebel, profiliertes Gesims, Stukkatur mit Blättern, Blumen, Maskarons und Wappen.








Rokoko

Vom Rokoko sind in Kiew nicht viele Gebäude übriggeblieben, das Meiste hat der Zahn der Zeit verschlungen. Was jedoch heute noch steht, ist exemplarisch für den Stilnachfolger des Barock, baut auf ihm auf und entwickelt doch mit übervollem und detaillierten Dekors und Verzierungen sein eigenes unverwechselbares Gesicht in Innenräumen, an Möbelstücken und einigen Fassaden Kiews.

Der Beginn des Rokoko kann auf die Regentschaft Zarin Elisabeth datiert werden. Zu dieser Zeit pflegte die Dame eine heftige Liebschaft mit dem Kosakensohn Oleksa Rozum, den diese Liaison schon in den Titel des Grafen Razumowskij gehoben hatte. So groß war das Verzehren der Zarin nach ihrem Kosaken, dass Sie für längere Aufenthalte die Errichtung eines Palastes und einer Kirche befahl. Und so wurde 1747-1753 die Sankt Andreas Kirche gebaut, nach Plänen des Sankt Petersburger, italienischstämmigen Architekten Bartolomeo Rastrelli wurde gebaut. Rastrelli selbst hielt es nicht für nötig, das Projekt in Kiew zu betreuen.

Der Innenraum der Kiewer Sankt Andreas Kirche ist über und über mit Stuck, Vergoldungen und einem riesigen rotgoldenen Ikonostase  gesegnet, sie wird wird oft mit der Pracht im nahegelegenen Mariinskipalast verglichen und die Silouette der Andreas Kirche prägt die Kiewer Skyline.






Auch der Mariinskij Palast hoch auf den Hügeln über den Dnjepr ist ein Prachtstück des Rokoko. Auch hier spielte Rastrelli als Architekt und Planer eine große Rolle, doch wurde der Palast während des Baus und nach anschließenden Bränden von lokalen Architekten, darunter Ivan Hryhorovich Barskyj,  teilweise umgeplant und gaben dem Mariinski Palast ganz eigene Stilmerkmale mit, die man heute als ukrainischen Rokoko bezeichnen könnte. Als er nach den Namen seiner letzten Besitzerin, der Zarin Maria Fjodorowna Mariinskij benannt wurde, änderte sich am Palast ab Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr.

Klassizismus

Der Klassizismus stellt den letzten Baustil aus der sogenannten „Ära der großen Stile“. Da er sich in der Ukraine sehr nah an der kommenden Periode seiner Imitation befindet, ist es teilweise schwer,  eine Abgrenzung zwischen dem wahren Klassizismus und dem Neoklassizismus izu finden.
Auf dieser Grenze balanciert die Stilperle der Sankt Wolodymyr Universität,heute die Taras Schewtschenko Universität. In dem Gebäude, nach dem Entwurf von Innocence Beretti 1837-43 gebaut, spiegelt sich der klassische, ideologische Slogan des Klassizismus - ruhige Pracht, die sich selbst genügt – meisterhaft wider. Was die formale Eigenschaften anbetrifft, basiert der Klassizismus ja auf geprüften Mustern der Antike und der Renaissance, das bedeutet Säulen, Portikusse, Nachahmungsteine, die an den Ecken des Gebäuden herausragten, Schlusssteine, charakteristische Umrahmung der Fenster war den beiden Vorgängerstilen entlehnt und reichlich verwendet.





Beeindruckend ist die strenge Symmetrie mit Hauptakzent auf die Mitte des Gebäudes, an der der Universitätsbau höher ist und Höhe für einen imposanten Haupteingang schafft, auf den beiden Seiten schließen sich niedrigere Flügel an. Dazu wirken raffinierte Proportionen der einzelnen Elemente, überrascht das Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen des Baus. In Inneren des Baus dominieren prächtige Wandgemälde; dazu wird die diese klassizistische Rafinesse durch grelle Farben in Kontrast zu Fenstern, Geländern und  Säule in weißer Farbe unterstrichen.

Ähnlich außergewöhnlich ist auch die von Beretti konzipierte Außenfassade, die er komplett rot einfärben ließ, wobei jedoch Basen und Kapitäler des Dachs und der Säulen, die nicht aus Stein, sondern Eisen geformt wurden, unbehandelt schwarz blieben und damit einen interessanten Kontrapunkt in der Fassade setzen. Die Farben des Baus gehen zurück auf den Orden des Heiligen Wladimir, der im 18. Jahrhundert von Zarin Katharina II. in Erinnerung an den Reichsgründer Wolodymyr I., Fürst der Kiewer Rus gestiftet wurde.

Der einducksvollste Vertreter dees Klassizismus in Kiew ist das Haus der Kontrakte im Kiewer Stadtteil Podil, dem einstigen Hafen- und Handelsviertel. Dieses Handelszentrum wird 1815 nach dem Entwurf von Wilhelm Heste gebaut und wirkt schon durch seine schieren Ausmaße solide und respekteinflössend, wie es sich ehrbare Kaufleute von Handelspartnern erwarteten. Ein weiteres lohnenswertes Besichtigungsziel ist die malerisch in die Parklandschaft auf den Dnjeprhügeln eingebettete orthodoxe Sankt- Nikolaus- Kirche –Rotonde, ein Kleinod des Klassizismus, 1809 gebaut nach den Plänen des Architekten  von Andriy Melenskyj. Sie schlummert zu Füssen des Grabes des Warägerfürsten Askold, eines der Gründer Kiews.




Dass Klassizismus nicht nur majestätisch, sondern auch privat- gemütlich daherkommen konnte, das spiegelt sich in einigen Kiewer Wohngebäuden wieder. In Kiew gibt es einige kleine, vor allem Bürgerhäuser (die Stadt bestand bis zum Zweiten Weltkrieg fast nur aus den Bürgerhäusern). Es könnte noch mehr sein, aber im Jahre 1960-70 fielen viele alte Gebäude dem sowjetischen Drang nach Moderne zu Opfer. Was übrig geblieben ist, ist sehr charakteristisch und pittoresk.

Einen Spaziergang dazu würden wir in der Spasski- Straße beginnen. Das Haus 16 b ( heute ist hier das Hetman- Museum untergebracht) ist allgemein ein Barockbau, an dem jedoch nachträglich ein Giebel mit zwei ionischen Säulen unter dem Dach im klassizistischen Spitzdekor angebaut; so entstand ein Übergangstyp vom Barock zu Klassizismus. Der Barockteil wurde von der angesehenen Familie Sichewskyj gebaut (zu denen einige Generationen Magistrate und Priester gehörten). In einem verheerenden Feuer im Jahr 1811 verbrannte das Dach und gab dem nunmehrigen Besitzer, dem Kaufmann Iwan Pokrowsky die Möglichkeit, klassizistische Elemente in den Bau zu ergänzen.

Etwas verdeckt findet sich in der Spasski Straße 10 ein weiterer Vertreter des Klassizismus, leider wird das hübsche einstöckige Haus vom Schatten der Terrasse eines Restaurants fast völlig verdeckt.
Ein sehr typischer Herrenhaus befindet sich in der Moskovska Straße 40: aus Holz genaut, mit einem Säulengang aus ionischen Säulen zur Straße, zwischen denen sich auf der zweiten Etage eine gemütliche Ballustrade mit dem Balkon befindet. Derzeit ist hier das Museum der ukrainischen Diaspora eingerichtet.




Die wohl interessanteste Spur des Klassizismus in Kiew findet sich kaum bemerkt in ungewöhnlicher Form: es handelt sich um eine Säule nach dem Entwurf von Andrij Melenskyj, die 1802 - 1808 über dem  Dnipro zu Ehren der Rückkehrs des Magdeburger Rechts nach Kiew gebaut wurde. Natürlich war dieses „Magdeburger Recht“, wie überall im Russischen Zarenreich, nicht vergleichbar mit den mittelalterlichen Regeln der städtischen Selbstverwaltung. Aber das ist schon eine andere Geschichte…

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